Organisationsentwicklung: Was wir aus der Corona-Zeit lernen können.

Die Gast-Autorin Julia Henke stellt sich die Frage, ob es Corona-Zitronen gab und gibt oder wie man die Home-Office Pflicht sinnvoll für die Organisationsentwicklung nutzen kann. Das Ergebnis birgt Klarheit, Überraschungen und einen Impuls für eine vielleicht neue Sichtweise. 
Xing Home Office Henke

Checkliste Home-Office

Bis März 2022 gilt sie noch, mit Option auf Verlängerung: Die Home-Office Pflicht.
Auch wenn in manchen Unternehmen hinter vorgehaltener Hand noch auf eine Rückkehr zu einem alten Normal gehofft wird, so ist es doch größtenteils Konsens der medialen Darstellung, dass es keine komplette Umkehrung geben wird und dass ein hybrides Arbeitsort-Modell zukünftig für viele Arbeitsplätze Usus sein wird.
Da überrascht es nicht, dass es im Internet mittlerweile jede Menge Anregungen und Checklisten gibt, wie man Home-Office und die Zukunft der Arbeit erfolgreich organisiert.
Das beginnt bei Tipps,
  • wie sich die Arbeitnehmer:innen selber besser strukturieren („regelmäßige Pausen planen und dabei NICHT die Waschmaschine anstellen“),
  • geht weiter über Hinweise, wie Teams am besten zusammenarbeiten, wenn sie sich nicht täglich sehen („Antwortzeiten für die Beantwortung von Emails festlegen“)
  • und führt dann zu einem großen Anforderungskatalog an „Digital Leadership“ („die Führungskraft muss Signale senden, damit sich die Mitarbeiter wertgeschätzt und gesehen fühlen“).

Diese Listen sollten Fragen aufwerfen:

  • Woher kommt die Annahme, dass Mitarbeitende außerhalb der vier Bürowände nicht in der Lage dazu seien, sich selbst zu organisieren?
  • Und kann eine Checkliste der Unterschiedlichkeit von Unternehmen auch nur im Ansatz gerecht werden?
Besonders der zweite Punkt ist eine häufige Denkfalle, um Komplexität aus dem Weg zu gehen: Das Einführen von neuen Initiativen (auch gut gemeinten „New Work“-Initiativen) und Management-Praktiken, ohne eine vorherige individuelle Betrachtung und Abwägung bleibt im besten Fall wirkungslos; in vielen Fällen führt es jedoch zu Zynismus, Verhärtung und Leistungsabfall.
Daher bieten im Folgenden Impulse bieten, um die verändert Situation und den allgemein lautwerdenden Ruf nach hybrider Arbeit als Chance zu sehen, sich mit dem eigenen Organisationsdesign grundlegend und wirkungsvoll auseinanderzusetzen.

Sind Mitarbeitende entwicklungsbedürftig?

Es mutet schon etwas seltsam an, wenn man Tipps wie „es empfiehlt sich, sich für das Arbeiten im Home-Office genauso anzuziehen, als würde man ins Büro gehen“ liest.
  • Glauben wir wirklich, MitarbeiterInnen seien nicht in der Lage, jenseits von den offiziellen Büroräumen Ihren Arbeitstag selbstständig zu strukturieren?
  • Wie war das vorher im Büro? Hat diesen MitarbeiterInnen da jemand jeden Schritt vorgegeben, an Pausen erinnert, zum Feierabend ermahnt?
  • Was im ersten Moment lächerlich erscheint, macht auf den zweiten nachdenklich.
Beim genauerem Hinschauen ist es mit dem Vertrauen in die Selbstorganisation der Mitarbeitenden auch im Büro häufig nicht gut gestellt. Arbeitszeitregelung, Reisekostenrichtlinien oder auch die Abschaltung der E-Mail-Server in der Freizeit sind genau genommen auch eine Delegation von Verantwortung von der Person zu einem Formblatt.
Man mag einwerfen, dass viele der Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmenden eingeführt wurden. Tatsächlich gab es mit Sicherheit immer einen guten Grund.
Aber die Einführung solcher Praktiken kommt nie ohne Kosten, die immer gegen den Nutzen aufzurechnen sind. In diesem Fall mit dem Verlust der Verantwortungsübernahme.
Oder anders ausgedrückt: Unter der Annahme, Menschen seien steuerungs- und kontrollbedürftig, verhalten sich Menschen steuerungs- und kontrollbedürftig. Übergibt man den Mitarbeitenden echte Verantwortung und reizt Talente mit einem anspruchsvollen Problem, so ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass Verantwortungsübernahme selbstverständlich geschieht.
Da Menschen sich sinnvoll zum Kontext verhalten, ist nicht der Mitarbeitende entwicklungsbedürftig, es sind die Strukturen, die zu verändern sind, um anderes Verhalten zu provozieren.

Wie entsteht Kultur?

In vielen Artikeln rund um das Thema Home-Office wird berichtet, dass die Unternehmenskultur im Lockdown und durch die Home-Office Pflicht gelitten hätte. Da das hybride Arbeiten nun nicht mehr wegzudenken sei, müsse man nun Wege finden, die Kultur wieder zu beleben, den Zusammenhalt und die Kollegialität fördern.
Beliebte Lösungsansätze sind beispielsweise das Einführen von regelmäßigen Calls, festen Office-Tagen, dem Umbau des Büros hin zu einer modernen attraktiven Arbeitsumgebung und das Veranstalten von Team-Events.
Diese Lösungen beruhen auf der Annahme, man könne die Kultur formen und vor allem: Glückliche Mitarbeitende sind gute Mitarbeitende. Geht es den Mitarbeitenden gut, geht’s dem Unternehmen gut.

Ist das so, mit der Kultur?

Doch dieser kausale Zusammenhang besteht nicht oder ist zumindest massiv unvollständig.
Erstens ist die Kultur kein Gestaltungsgegenstand der Organisation. Sie ist das Abbild der Verhältnisse. Kultur formt sich selbst aus dem Gedächtnis der Organisation.
Und zweitens führt das Ausrichten der Organisation am Wohlbefinden der Mitarbeiter in eine Sackgasse. Denn nicht das Wohlbefinden macht den Erfolg des Unternehmens aus, sondern der gemeinsame Erfolg führt in vielen Fällen zu Wohlbefinden der beteiligten Akteure.
Es spricht natürlich nichts dagegen, bestimmte Voraussetzungen zu schaffen, damit sich Mitarbeiter wohlfühlen können, sei es durch ergonomische gesundheitsfördernde räumliche Bedingungen oder gesunde Mittagsangebote.
Aber wenn man das Wohlbefinden als zentrales Erfolgsmerkmal der Unternehmung sieht, dann bleibt auch nichts anderes übrig, als an der Zufriedenheit der Menschen zu arbeiten. Und hier zeigt sich das ganze Dilemma in der Home-Office Debatte: Im Home-Office ist der Zugriff auf den Menschen noch weniger möglich. Man muss einen ungeheuren Aufwand betreiben und hat doch nur einen sehr geringen Einfluss, ob der oder die einzelne sich dadurch nun wirklich wohlfühlt. Das was vorher schon schwierig war, wird nun beinahe unmöglich.

Der Mensch im Mittelpunkt?

Entgegen allen aktuell proklamierten Aussagen hilft es, nicht den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Die Wertschöpfung der Organisation ist es, auf die man sich ausrichten sollte.
Dies hat zwei Vorteile:
  1. Es entlastet den Menschen. Es wird nicht länger nach Helden und Schuldigen gesucht, sondern mit den Menschen am System gearbeitet, um das beste Ergebnis zu erzielen.
  2. Es bedarf weniger Aufwand bei gleichzeitig größerer Aussicht auf Erfolg, wenn man den institutionellen Rahmen der Organisation verändert. Dies kann man – mit ausreichend formaler Macht – sozusagen über Nacht.

Was könnten solche strukturellen Veränderungen sein?

Zum Beispiel erscheint es sinnvoll, ein Umfeld zu schaffen, indem sich Kooperation lohnt, bzw. vor allem nicht verhindert wird. Unterschiedliche Kennzahlen und Anreizsysteme sind Beispiele solcher Kooperationskiller. Gut gemeint verhindern sie nachweislich gelingende Zusammenarbeit.
Es ist kein Geheimnis, dass für die Lösung vieler Probleme dynamischer Märkte eine Vielzahl von unterschiedlichen Talenten notwendig ist, die bestenfalls in guter Passung zusammenarbeiten. Diese viel gerühmte Zusammenarbeit ist kein Selbstzweck und schon gar nicht Folge freundschaftlicher Verbindung nach gelungenem Team-Building. Sie entsteht, wenn Menschen ein geteiltes Problem haben. Und die angestrebte Kultur a la „vom ich zum wir“ ist Folge des gemeinsamen Erfolgs. Ganz unabhängig von den örtlichen Begebenheiten.

Was bedeutet Führung?

Im Zusammenhang von den neuen hybriden Arbeitsortmodellen wird die sowieso schon aufgeheizte Debatte um die „Führungskräfte von morgen“ noch einmal angefeuert. Es wird davon gesprochen, dass Führungskräfte vollkommen neue Fähigkeiten erlernen müssten, um die neuen Generationen und vor allem auch remote führen zu können.
Diesen Aussagen liegt die allgemein häufig anerkannte Annahme zu Grunde, dass Führungskräfte aktiv andere Menschen führen, die sonst – platt gesagt – nicht wissen, was sie tun sollen. Sie sind diesen Menschen in Wissen und Können überlegen und müssen nun darüber hinaus auch noch Coach und Mentor sein. Ein Anforderungsprofil, dass den komplexen Aufgabenstellungen in Organisationen nicht gerecht wird und zu Überforderung und Burn-out führt.
Hier hilft es, eine Unterscheidung vorzunehmen: Steuerung, also die Vorgabe von Regeln und Prozessen, macht überall dort Sinn, wo es den „one best way“ gibt, also dort wo Routine stattfindet, und wenig Marktdruck herrscht. Überall dort, wo die Probleme und Aufgaben dynamisch sind, es also noch gar kein Wissen geben kann, es um die Entwicklung von neuen Ideen geht, ist Steuerung hinderlich.
Wenn Führungskräfte in ihrer Position formale Macht innehaben, ist es ihre Aufgabe, die Regeln und Prozesse für den Wertschöpfungsbereich mit niedriger Dynamik zu kontrollieren und zu steuern und gleichzeitig die Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, dass neue Probleme, für die es noch kein Wissen gibt, von Talenten möglichst ungestört gelöst werden können. Wenn diese Strukturen es zu lassen, entsteht in diesem Bereich, der sogenannten Wertschöpfung der Ausnahme, Führung durch immer genau die Könner, die für das Problem durch Ihre Ideen, Ihr Talent und Ihre Erfahrung am qualifiziertesten sind. Oftmals ohne, dass dies explizit besprochen werden muss.

Auf die Details kommt es an.

Diese Unterscheidung zwischen Steuerung und Führung bietet eine neue Sicht auf die Rolle von Führungskräften und entlastet sie von dem Anspruch, eine Eierlegende-Wollmilch-Sau zu sein. Gleichzeitig richtet sie auch hier wieder das Augenmerk auf die Veränderung der Verhältnisse, ohne den Führungskräften nach den Mitarbeitenden ihre Entwicklungs-bedürftigkeit vorzuwerfen.

Organisationen kann man nicht mit Checklisten verändern

Die Betrachtung der Entwicklung von Organisationen über die letzten 150 Jahre zeigt uns: es gibt nicht die eine richtige Organisationsform. Insbesondere Unternehmen zeichnen sich durch Ihre Anpassungsfähigkeit an Ihre Umwelt aus, ihr Markt bestimmt, wie sie sich formen, um weiter erfolgreich bestehen zu können.
Jede Hierarchiestufe, jeder eingeführte Prozess und jede Managementmethode hat ebenso viele Vorzüge wie Nachteile - diese abzuwägen und das für die individuelle Wertschöpfung dieser speziellen Organisation Sinnvollste auszuwählen ist das typische Spannungsfeld, in dem sich Unternehmen bewegen.
Wenn man also verstanden und akzeptiert hat, dass es keine einfache und vor allem keine beste Lösung gibt, kann man beginnen, den pandemiebedingten Anstoß zur Veränderung bestmöglich zu nutzen.

Online-Impuls 

Mehr über das Thema können Sie in dem Online-Impuls Organisationsentwicklung: New Work, New Office, New Fail erfahren, mit der Möglichkeit eines persönlichen Austauschs. 
(Autorin: Julia Henke; Herausgeber: Emmanuel Beule)