Was zum Kuckuck bringen Lean oder Agil?!

Dieser Gastbeitrag von Michael Habighorst, Geschäftsführer von Habighorst Consulting, ist die perfekte Ouvertüre für die Frage, ob Lean Management bzw. Agile Methoden die richtige Wahl für Unternehmen ist. Die Antwort liegt auf der Hand: Es kommt darauf an. 
Michael Habighorst hat sich vor ein paar Jahren eine dreimonatige Auszeit gegönnt, eine über 9.000 Kilometer lange Radtour zum Nordkap unternommen und sich mit Lean Management Methoden darauf vorbeireitet. Mehr, er hat sich mit Hilfe der Methodenkenntnisse zu seinem Ziel “durchgebissen”, seine berufliche Expertise zur Erreichung seines Ziels angewandt und dabei jede Menge über die Methode und über sich gelernt.
Ein unterhaltsamer, bereichernder und anregender, aber auch ein ‘etwas anderer’ Fachartikel. 
[Dieser Impulsbeitrag ist aus Habighorsts Buch Auf die schlanke Tour – So werden Unternehmen lean und agil. Wir danken Herrn Habighorst und der dpunkt.verlag GmbH für die Freigabe des ersten Buchabschnittes.] 

Gegen den Wind: Nur geteilter Erfolg ist echter Erfolg

Die letzten Meter vor dem Nordkap. Ich pedalierte wie ein Gestörter. Dann lag ich da.
Siebeneinhalb Wochen war ich unterwegs gewesen, als ich stürzte. Siebeneinhalb Wochen bis zu sechs Stunden täglich auf dem Sattel. Ich war allein vom Schwarzwald zum nördlichsten Punkt Europas gefahren. Siebeneinhalb Wochen immer mit einem einzigen Bild vor meinem inneren Auge: Ich stehe am Wahrzeichen des Nordkaps, der Weltkugel, reiße die Arme in die Höhe, neben mir mein Fahrrad mit den Gepäcktaschen, hinter mir nur Wasser, Himmel und Weite.
Ich neben der Weltkugel – das war mein Zielbild gewesen, seit ich anderthalb Jahre zuvor das erste Foto vom Nordkap gesehen hatte, von der Klippe, vom Meer und von dem meterhohen Globus aus schwarz lackiertem Stahl.
In den anderthalb Jahren hatte ich Tausende Male innerlich dieses Bild aufgerufen. Mehr als 4.300 Kilometer war ich nun gefahren, bei jedem Wetter, tagelang durch Wälder, durch Strauchsteppen, durch die ganze insektenverseuchte Ödnis im Norden Skandinaviens. Dieses eine Bild von mir und dem Globus auf dem Nordkapplateau hatte mich getragen. Selbst nach schlimmen Rückschlägen hatte es mich neu beflügelt.
24Radfahren
Doch jetzt, kurz vorm Ziel, war ich nicht mehr allein. Da waren auf einmal all die anderen Radfahrer, die in meinen inneren Bildern nicht vorgekommen waren. Das brachte mich aus der Fassung.

Völlig von der Rolle

Kurz vor dem Nordkap ist fast alle Vegetation wie weggepustet. Die Straße windet sich die letzten 28 Kilometer zwei Mal etwa 300 Höhenmeter auf ein Plateau, danach geht es gleich wieder steil bergab. Links und rechts nur noch Schotter und wenige Zentimeter hohes Gras. Wir fuhren jetzt zu viert: Christian, Henk, Robert und ich.
Vier Radfahrer, die sich zufällig auf dem letzten Campingplatz vor dem Nordkap begegnet waren. Die Sonne schien, es war nur leicht bewölkt. Ideale Bedingungen? Von wegen!
Wir hatten Gegenwind mit 60 Kilometern die Stunde. Dadurch kamen wir extrem langsam voran, waren bald alle körperlich am Limit. Henk und Robert hatten ihr Gepäck auf dem Campingplatz zurückgelassen, Christian und ich fuhren mit voll beladenem Rad. Wir wollten am Nordkap übernachten.
Diese letzten beiden Steigungen, bevor man dann etwa zehn Kilometer vor dem Ziel schon das Besucherzentrum sieht, waren die härteste Strecke meiner ganzen Tour. Und da passierte es dann: Ich war nicht mehr ich selbst.

Wenn das Zielbild zum Zerrbild wird

Ich bekam auf einmal Angst, dass mein Erfolg jetzt kein Erfolg mehr sein würde.
Ich wollte doch dieses Foto haben: ich allein am Globus auf dem Nordkapplateau, Arme in der Höhe, Fahrrad neben mir. Ja, ich brauchte dieses Foto unbedingt für meine Vorträge zum Thema, wie Unternehmen lean und agil werden, denn diese Vorträge waren fest geplant. Wenn da jetzt vier Radfahrer auf dem Foto wären, dann würden ja alle sehen, dass das jeder kann und es nichts Besonderes ist, mit dem Fahrrad zum Nordkap zu fahren.
Auf einmal sah ich die anderen Radfahrer als meine Konkurrenten. Und da gab es für mich nur noch eins: schneller sein, als Erster da sein und allein an der Weltkugel das Foto machen. Mein Foto.
Ich geriet in einen irren Film, verkrampfte mich, pedalierte und pedalierte, schwitzte, bekam Schmerzen in den Beinen, einen staubtrockenen Mund, sah links und rechts nichts mehr. Trotz meines schweren Gepäcks schaffte ich es tatsächlich, schneller zu fahren als die anderen drei. Bald sah ich mich nicht mehr um, wusste nicht mehr, wie dicht sie hinter mir waren.
Hauptsache, ich war schneller, würde der Erste sein. Ich hatte kein Zeitgefühl, kämpfte mit jedem Tritt nur noch gegen diesen scheiß Gegenwind. Irgendwann erreichte ich das Besucherzentrum, einen flachen Steinbau. Seit einer quälend langen Stunde hatte mir der Gebäuderiegel den Blick auf das Wahrzeichen versperrt, mein Zielbild. Das hatte mich nur noch rasender gemacht.
Jetzt kurvte ich links um das Gebäude, zwischen zwei großen Steinen hindurch, die da liegen, um Autos abzuhalten. Endlich sah ich ihn, den Globus auf dem Plateau!
Da plötzlich der Sturz: Ich spüre einen heftigen Ruck. Mein Fahrrad stoppt, aber ich nicht. Ich hebe ab, fliege durch die Luft, stürze zu Boden. Mit dem Ellenbogen und der Hand treffe ich zuerst auf den Schotter, dann mit der Schulter und dem Kopf.
Es tut sauweh. Ich stöhne vor Schmerzen, sehe, dass ich blute, und kapiere erst jetzt, was passiert ist: Ich bin mit einer der hinteren Packtaschen an einem der Steine hängen geblieben.
Mein erster Gedanke: Mist! Mein zweiter Gedanke: Wo sind die anderen? Werden sie mich jetzt einholen? Überholen? Nein, das darf nicht sein! Ich springe auf, kümmere mich nicht um meine Verletzungen, ignoriere die Schmerzen. Noch ist keiner der anderen da. Ich schwinge mich zurück aufs Rad, rolle die letzten Meter zum Sockel, auf dem der Globus steht, und denke: Hey, ich bin immer noch Erster!
Dann will ich mein Fahrrad die kurze Treppe zum Denkmal hochtragen. Es sind nur drei oder vier Stufen, aber ich schaffe es nicht. Irgendwas hält das Fahrrad zurück. Ich zerre wie verrückt, aber es will nicht diese Treppe hoch. Das gibt’s doch gar nicht! Da sehe ich, wie Henk und Robert schon oben stehen, lachen, sich freuen.
Hinter mir ist jemand! Er hat mein Fahrrad gepackt und zieht es zurück. Geht’s noch?! Da erst merke ich, dass sich eine der Packtaschen am Treppengeländer verhakt hat. Der andere Besucher will mir nur helfen. Indem er das Rad zurückzieht, löst er schließlich die Tasche vom Geländer. Ich sage nicht einmal »Thank you«. Ich sehe nur mich und mein Ziel.
Endlich bekomme ich das Fahrrad nach oben unter den Globus. Ich bin völlig fertig. Einer der Besucher macht für uns zwei oder drei Fotos, wie wir da oben stehen: Radfahrer in Heldenpose am Nordkap. Die Bilder werden grottenschlecht. Mein Helm sitzt schief, mein Gesicht ist zu dunkel, ich bin kaum zu erkennen.

Eine unerwartete Lektion

Meine Fahrradtour von Freiburg zum Nordkap und zurück war für mich ein Sprung ins kalte Wasser. Zwar hatte ich bereits mehrmals an Europas härtester Autorallye teilgenommen, aber mit langen Radtouren fehlte mir jede Erfahrung. In Skandinavien kannte ich mich auch nicht aus, denn ich war bisher noch nie nördlicher als auf Sylt gewesen. Das allein war Grund genug, mich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.
Doch der entscheidende Gedanke war gewesen, dass ich die Tour nicht zum Vergnügen machen würde. Ich hatte sozusagen eine Mission zu erfüllen. Die Ereignisse der Reise wollte ich in Fotos, Videos und einem dicken Tagebuch festhalten, um später in Vorträgen, Workshops und einem Buch vielen Menschen in Unternehmen die Augen zu öffnen.
Was war diese Mission?
Dazu muss ich etwas ausholen. Ich bin eingefleischter Fan des Lean Management. Mein wichtigster Lehrer der Lean-Denkweise war Hitoshi Takeda, einer der Begründer dieses Ansatzes bei Toyota.
Doch fast immer, wenn ich in den letzten Jahren in ein Unternehmen kam, wurde ich von Managern und Mitarbeitern mit dem gleichen Satz konfrontiert: »Lean Management funktioniert bei uns nicht.« Ich kann diese Skepsis sogar ein Stück weit nachvollziehen.
Viele kennen Methoden und Tools aus dem Lean Management, aber es fehlt ihnen an einem Grundverständnis der Lean-Denkweise. Ohne dieses Verständnis sind die Lean-Werkzeuge nicht viel wert. Doch wie lässt sich ein Grundverständnis für die Lean-Idee so vermitteln, dass sie jedem unmittelbar einleuchtet?

Lean Management im Selbstversuch

Die Antwort auf diese Frage war meine Radtour.
Denn die Lean-Prinzipien sind so genial, dass sie sich problemlos auf alle möglichen Lebensbereiche übertragen lassen. Sie helfen jedem, der etwas optimieren, ein anspruchsvolles Ziel erreichen oder unerwartete Probleme lösen möchte.
Wenn mein Verständnis von Lean richtig war, dann würde ich anhand einer Radtour über fast 10.000 Kilometer – von der ich mich sicher zunächst ganz schön überfordert fühlen würde – zeigen können, wie man schlank und agil auf der Erfolgsspur fährt. Von »agilem Management« oder »agiler Projektsteuerung« liest man in letzter Zeit häufig.
Als Schüler von Hitoshi Takeda weiß ich, dass agile Vorgehensweisen schon immer Teil der Lean-Kultur sind, sich aber im Business jetzt erst breit durchsetzen. Ich führte mir also die wichtigsten Lean-Prinzipien vor Augen und musste nicht lange überlegen, wie ich ihre Anwendbarkeit anhand der Radtour demonstrieren könnte.
Schließlich hatte ich einen Plan und glaubte, an alles gedacht zu haben. Ich wollte jetzt mal richtig der Bescheidwisser sein und anderen demonstrieren, was Lean Management ist.
Für einen zertifizierten Lean-Experten und -Trainer, Scrum Master und Six Sigma Master Black Belt sollte das ja kein Problem sein. Das dachte ich. Womit ich, der Lean-Experte, überhaupt nicht rechnete, war, auf meiner Tour selbst noch etwas zu lernen. Doch dann wurde gerade das für mich die härteste und wichtigste Erfahrung. 

»Respect for People« – das wichtigste Lean-Prinzip

»Respect for People« heißt einer der Lean-Grundsätze. Das klingt jetzt erst mal nicht nach einer besonderen Erleuchtung.
Damit ist jedoch weit mehr gemeint, als nett zu Kollegen zu sein oder im Unternehmen anständig miteinander umzugehen. Eher könnte man dieses Prinzip so umschreiben: Mache dir stets bewusst, dass du auf andere Menschen angewiesen bist und dass du dauerhaften Erfolg nur gemeinsam mit ihnen erzielen kannst. Natürlich kannte ich den Grundsatz »Respect for People« schon vor meinem Aufbruch zum Nordkap. Aber ich maß dem keine große Bedeutung bei. Schließlich würde ich doch die ganze Zeit allein unterwegs sein!
Also konzentrierte ich mich lieber auf andere Prinzipien, wie Vermeidung von Überlast, Rhythmusaufbau, Problemlösung oder agile Planung. Da ging es darum, wie ich meine Ausrüstung packe, wie viel ich am Tag fahre, wie ich mit Pannen umgehe oder wie ich meine Route stets optimiere. Andere Menschen respektieren – ja, welche denn? In meinen inneren Bildern kamen keine vor. Da sah ich nur mich, mein Rad und den Globus am Nordkap.

Gemeinsame, keine einsamen Ziele

Anders als im Arbeitsleben ist es während einer Radtour so, dass es für alles sofortiges Feedback gibt.
Im Job rutscht jemand vielleicht ganz langsam in einen Burn-out. Wer sich auf einer Radtour zum Nordkap an einem Tag überanstrengt, kriegt schon am nächsten Tag nichts mehr auf die Kette. Alles, was ich auf der Tour gemacht habe, hat sich auf die jeweilige Situation unmittelbar ausgewirkt. Das war extrem. Es war aber auch extrem lehrreich.
Wenn ich ein paar Meter vor dem Ziel nicht aufs Maul geflogen wäre, dann wüsste ich heute noch nicht, dass »Respect for People« das wichtigste aller Lean-Prinzipien ist. Ich wüsste nicht, dass Egotrips grundsätzlich sinnlos sind und nur geteilter Erfolg echter Erfolg ist. Aber jetzt weiß ich das. Ich weiß es, weil ich eine schmerzhafte Erfahrung gemacht habe. Und deshalb schreibe ich auch in diesem Buch am Anfang über das Prinzip »Respect for People«, noch bevor ich zu anderen, vielleicht bekannteren Lean-Grundsätzen komme.
Meine Tour hat mich gelehrt: Egal welches Ziel ich mir gesetzt habe, es geht immer auch um die anderen. Ich bin niemals allein unterwegs.

Was mache ich hier bloß?

Realität als Schock

Das Besucherzentrum am Nordkap heißt auf Norwegisch »Nordkapphallen«, und erst wenn man es betritt, merkt man, wie riesig es ist.
Der größte Teil des Gebäudes besteht aus Tiefgeschossen, die in den Felsen gehauen sind. Nachdem meine Ankunft am Wahrzeichen in die Hose gegangen war, konnte ich mich hier buchstäblich unter der Erde verkriechen. Zum Glück hatte ich mir bei meinem Sturz nichts gebrochen, denn sonst hätte ich die Rückfahrt über das Baltikum und Polen knicken können.
Wie ferngesteuert lief ich durch die vielen Räume, das Restaurant, die Ausstellung, das Kino. Es war unglaublich voll. Im Lauf eines Sommertags, wie ich ihn erlebt habe, kommen hier gut und gerne 15 Reisebusse an, dazu eine Armada von Wohnmobilen, Autos und Motorrädern. Der Parkplatz ist fast so groß wie der vor Ikea. Und dann sind da immer auch ein paar Verrückte mit dem Fahrrad, die wer weiß wo losgeradelt sind.
Nach anderthalb Stunden kam ich mit mir selbst wieder einigermaßen klar. Ich setzte mich an die große Scheibe, von der aus man direkt auf das Nordkapplateau und den Globus schaut. Geschützt vor dem Wind, der mich auf den letzten Kilometern fertiggemacht hatte. Es war die ideale Distanz zum Nachdenken: Was machte ich hier bloß?

»Respect for People« wirklich verstanden

Nach Wochen der Anstrengung war mein Zielbild zu einer anfassbaren Realität geworden. Aber durch meine mangelnde Bereitschaft, den Erfolg mit anderen zu teilen, hatte ich mir die beglückende Erfahrung fürs Erste verdorben. Mir wurde klar, welch irrer Film in meinem Kopf abgelaufen war.
Ich hatte Menschen, denen ich zufällig begegnet war, als meine Konkurrenten gesehen und unbedingt schneller sein wollen als sie. Das alles war völlig irrational und genau deshalb so beunruhigend. Ich dachte hier auch zum ersten Mal an den Grundsatz »Respect for People« und ahnte, dass ich dessen Tragweite vielleicht bisher nie richtig verstanden hatte.
Eines war mir aber schon hundertprozentig klar: Ich wollte nie wieder alleine in einem solchen Tunnel unterwegs sein, verbissen auf der Jagd nach nichts anderem als dem eigenen Erfolg.
Nach einiger Zeit traf ich im Besucherzentrum wieder auf Christian, Henk und Robert. Christian stammt aus Osnabrück, das ist in der Nähe meiner alten Heimat in Ostwestfalen. Wir haben uns im folgenden Jahr zu Weihnachten noch einmal getroffen, und da fragte ich Christian ganz offen, ob ihm aufgefallen sei, wie ich kurz vor dem Ziel drauf gewesen war. Nein, er habe nichts mitbekommen – und das machte es für mich fast noch schlimmer. Das ganze irre Drama war wirklich nur in meinem Kopf gewesen.
Christian hatte 150 Meter vor der Nordkapkugel sogar noch einmal angehalten und eine kurze Pause gemacht. Er wollte in Ruhe ankommen. Henk und Robert verließen das Besucherzentrum schon bald wieder, weil sie zurück zum Campingplatz in Honningsvåg mussten. Da Christian auch am Nordkap übernachten wollte, verbrachten wir den Rest des Tages gemeinsam. Fast zehn Stunden lang saßen wir am Fenster mit Blick auf die schwarze Weltkugel. Wir redeten nicht viel, und das war auch gar nicht nötig.
Mehr und mehr genoss ich das schöne Gefühl, jetzt nicht alleine zu sein, diesen Moment mit jemandem teilen zu können. Ab und zu gingen wir nach draußen, um weitere Fotos zu machen. So entstanden dann auch die vorzeigbaren Bilder für meinen Vortrag und die Presse. Auf diesen Fotos sehe ich entspannt und glücklich aus, und das war ich jetzt endlich auch.
Den Rest dieses Tages verbrachte ich mit Tagebuchschreiben. Dabei und in späteren Reflexionen wurde mir klar, was ich erlebt hatte und was der Unterschied zu meinen Erfahrungen in Unternehmen war. Ich hatte einen Egotrip reinster Güte hinter mir.
Da es auf einer Radtour sofortiges Feedback gibt, hatte ich für den Egotrip gleich die Quittung bekommen. Ich hatte mich bis zur Erschöpfung verausgabt, statt mit der Gruppe im Windschatten zu fahren. Dadurch war ich unkonzentriert geworden, war unachtsam gefahren und schließlich gestürzt. Am Ende war ich nicht der Erste, sondern der Letzte am Ziel und konnte den Erfolg nicht mal genießen. Das alles lief innerhalb von sehr kurzer Zeit ab.

Die unvermeidliche Quittung eines Egotrips

Die Egotrips im Unternehmen verlaufen anders. Wer als Chef oder als Projektleiter nur an sich und seine Karriereziele denkt, bekommt kein sofortiges Feedback wie auf einer Radtour. Er kann sein Spiel eine ganze Zeit lang so treiben. Er kann zum Beispiel zu seinen Mitarbeitern sagen: »Kommt, Leute, nur noch ein einziges Mal müsst ihr mich jetzt voll unterstützen, ein Opfer bringen und alles geben.«
In Wirklichkeit sieht er es als den Normalzustand an, dass Mitarbeiter sich für ihn ausbeuten und die letzten Reserven mobilisieren. Er wird gleich bei nächster Gelegenheit wieder die gleichen pathetischen Sprüche bringen. Was er sich lange nicht bewusst macht: Sein Egotrip zersetzt das System schleichend, und irgendwann kommt auch hier die Quittung. Die Mitarbeiter sind dann ausgelaugt oder haben keine Lust mehr.
Entweder verlassen sie das Unternehmen, oder sie kündigen innerlich und machen nur noch Dienst nach Vorschrift. Das Schlimmste ist aber immer das Gleiche, egal ob auf einer Radtour oder im Unternehmen: Wer niemanden hat, mit dem er seine Erfolge teilen und sich gemeinsam freuen kann, der verpasst etwas Wesentliches.

Das Geheimnis der Familie Toyoda

Die Familie Toyoda (mit »d«)

Respekt, Höflichkeit, Disziplin und ein ausgeprägtes Wir-Gefühl zählen zu den wichtigsten Werten in Japan. Es wäre jedoch Unsinn, das Prinzip »Respect for People« in der Lean-Denkweise auf die japanische Kultur zurückzuführen.
Toyota, das Unternehmen, in dem Lean Management im 20. Jahrhundert entwickelt wurde, lebt seine Kultur schließlich an allen Standorten auf der Welt, also auch dort, wo gar keine Japaner arbeiten.
Wir kommen dem Geheimnis des besonderen Umgangs mit Menschen näher, wenn wir uns die Geschichte des Familienunternehmens Toyota anschauen. Die Familie Toyoda (mit »d«), die im Jahr 1937 ihr Unternehmen in Toyota (mit »t«) umtaufte – zu den Gründen für diese Änderung gibt es widersprüchliche Theorien –, lebte »Respect for People« schon, als wir Europäer in Sachen Teamspirit noch auf Bäumen saßen.
Bis heute konnte der Autobauer Toyota eine ganz eigene Firmenkultur bewahren. Toyota stellte ursprünglich – als das Unternehmen noch Toyoda hieß – Webstühle her. Firmengründer Sakichi Toyoda produzierte seit 1894 mechanische Webstühle und brachte 30 Jahre später gemeinsam mit seinem Sohn Kiichirō eine vollautomatische Webmaschine auf den Markt.
Hier kam zum ersten Mal eines der wichtigsten Prinzipien des späteren Lean-Produktionssystems zum Einsatz: Jidōka, das sich als »intelligente und menschliche Automation« umschreiben lässt. Die Webmaschine enthielt einen Mechanismus, der die Maschine automatisch stoppte, falls ein Faden riss. Dieses Prinzip war revolutionär, weil sich so erstmals schon während der Produktion Fehler ausmerzen ließen und nicht erst im Nachhinein.
Später wurde daraus die berühmte Grundregel, dass jeder einzelne Arbeiter die Produktion stoppen darf, wenn ihm ein Fehler auffällt. Aber nicht allein das. Zum Prinzip des Jidōka gehört auch, dass die Mitarbeiter selbstständig möglichst schnell die Lösung für ein Problem finden. 

Mitarbeiter und ihre Problemlösungskompetenz

Wer seinen Mitarbeitern so viel Verantwortung überträgt, der muss sie entsprechend entwickeln und befähigen.
Schon Sakichi Toyoda soll einmal gesagt haben: »Ich bin der bestbezahlte Lehrer im Unternehmen.« Im Fokus standen bei der Familie Toyoda immer die Menschen mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten.
Alle Mitarbeiter sollten hier mitdenken und Probleme selbstständig lösen können. Und auch das ist eine Frage des Respekts vor Menschen: Die Spitzengehälter sind bei Toyota bis heute vergleichsweise moderat. Firmenchef Akio Toyoda verdient laut übereinstimmenden Presseberichten umgerechnet rund 1,4 Millionen Euro im Jahr. Zum Vergleich: Beim Wettbewerber Volkswagen, dem Dauerrivalen um den Titel »größter Autobauer der Welt«, deckelte der Aufsichtsrat das Gehalt des Vorstandschefs erst 2017 auf 10 Millionen Euro. Martin Winterkorn hatte bis zu 16 Millionen Euro im Jahr verdient und bezieht heute eine Rente von 3.100 Euro – am Tag. GM-Chefin Mary Barra verdient 22 Millionen US-Dollar im Jahr und fliegt seit Kurzem in ihrem eigenen Businessjet, nachdem der Autobauer jahrelang seine Jets nur angemietet hatte. 

Spitzengehälter der Topmanager

Einem Toyota-Chef wären solche Gehälter oder gar ein eigener Jet vor seinen Mitarbeitern peinlich. Bei dem Konzern in Familienhand ist es eine Frage des Respekts, Maß zu halten und nicht zu protzen. Führungskräfte und Mitarbeiter empfinden sich bei Toyota als großes Team. Gestreikt wird praktisch nie. Das lässt sich von VW oder GM in dem Maße sicher nicht behaupten.
Zum besonderen Spirit bei Toyota gehört nicht zuletzt auch, dass das Familienunternehmen stets aus eigener Kraft gewachsen ist, also ohne staatliche Subventionen und ohne Zukäufe anderer Hersteller. Das sollte man auch bei der Dauerdiskussion bedenken, ob Toyota oder VW der größte Autohersteller der Welt ist. Toyota ist mit Sicherheit der größte aus eigener Kraft.
Ein Schlüssel dazu war und ist ein besonderer Umgang mit den Mitarbeitern. »Respect for People« drückt es vorsichtig aus, was typisch japanisch ist. »People first«, könnte man etwas plakativer sagen, zumal aus europäischer Sicht.
Als der damalige Porsche-Chef Wendelin Wiedeking die Lean-Denkweise 1992 erstmals nach Deutschland brachte, prallten Welten aufeinander. Während Lean Management bis in den Mittelstand Kreise zog, weil alle Porsche nacheiferten, unterschätzte man oft, welchen Umgang mit Mitarbeitern die Lean-Kultur voraussetzt. Ist das heute grundsätzlich anders? Ich fürchte nein.

Mit Menschen am Ort des Geschehens

Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich das während meiner Karriere in unterschiedlichen produzierenden Unternehmen erlebt habe: Es gibt ein Problem in der Produktion – und wo soll es gelöst werden?
Im Besprechungsraum!
Probleme im Besprechungsraum zu lösen, gelingt aber nur dann zuverlässig, wenn das Problem auch im Besprechungsraum liegt, wenn also zum Beispiel der Beamer dort streikt. Für alle übrigen Fälle gilt eine eiserne Regel von Hitoshi Takeda: Probleme löst man gemeinsam mit den Mitarbeitern am Ort des Geschehens.
Das klingt jetzt vielleicht erst mal ganz banal und leicht. Doch ich habe in Unternehmen gearbeitet, in denen für eine Bestellung von Büromaterial im Wert von 50 Euro fünf Unterschriften nötig waren.
In solchen Unternehmen ist es alles andere als banal und leicht, Probleme außerhalb von Managerrunden im Konferenzraum zu lösen. Sich gemeinsam mit den Mitarbeitern in der Produktionshalle – also den Arbeitern im Blaumann mit Öl an den Händen – über komplizierte technische Fragen zu unterhalten, ist hier noch undenkbar. Das käme einem grundlegenden kulturellen Wandel gleich.
Doch genau dieser Kulturwandel im Umgang mit Mitarbeitern ist oft nötig, wenn Unternehmen lean und agil werden wollen. 

Vermeintliche Problemlösung im Konferenzraum

Bei einem Hersteller von Motorgehäusen aus Grauguss gab es immer wieder Qualitätsprobleme. Kurz erklärt für alle, die mit Grauguss noch nie etwas zu tun hatten: Hier sind Probleme vorprogrammiert, mit denen jeder Hersteller umgehen muss.
Wenn man Graugussteile zerspant, werden Spannungen frei, und dadurch verzieht sich das Werkstück. Bei diesen Motoren sind konstruktionsbedingt nur minimale Toleranzen erlaubt. Die Kunst ist also, das Werkstück so zu bearbeiten, dass man während der Bearbeitung den Verzug kompensiert. Diese Firma bekam das nicht in den Griff.
Das Problem wurde von den Führungskräften im Konferenzraum endlos zerredet. Schließlich entschieden sich die Manager – wieder im Konferenzraum –, für 360.000 Euro eine neue Maschine für die Produktion der Gehäuse anzuschaffen. Das sollte das Problem lösen. Tat es aber nicht.
Die neue Maschine war in Betrieb und das Problem bestand fort. Jetzt wurde ein Schuldiger gesucht und gefunden, nämlich der Hersteller der Maschine. Die Führungskräfte hielten stundenlange Telefonkonferenzen mit diesem Hersteller – natürlich vom Konferenzraum aus –, schrieben Protokolle, die ganze Aktenordner füllten, drohten mit Klagen. Das zog sich drei Jahre lang hin, ohne dass eine Lösung in Sicht war. Schließlich waren die Fronten so verhärtet, dass der Maschinenhersteller nicht mehr ans Telefon ging.

Mitarbeiter zu Problemlösern machen

Jetzt endlich waren die Manager bereit, sich auf die Lean-Vorgehensweise von Hitoshi Takeda einzulassen und das Problem gemeinsam mit den Mitarbeitern am Ort des Geschehens zu lösen – kaum drei Jahre später. Und das lag nicht an der Lean-Methode, die irgendwie verrückt oder unlogisch klingen würde, sondern es lag an der Kultur im Umgang mit Menschen.
»Respect for People« heißt, ich als Manager unterhalte mich wenn nötig auch mit einem ungelernten Arbeiter über ein technisches Problem, sofern er im Alltag am nächsten am Problem dran ist und mir möglicherweise den entscheidenden Lösungshinweis geben kann.
Im Fall der Motorgehäuse war es dann so, dass wir den Mitarbeitern an der Maschine gezeigt haben, wie sie systematisch Einflussfaktoren identifizieren und deren Auswirkungen testen können.

Kluge Lösungen müssen nicht teuer sein

Ein halbes Jahr lang betrieben die Mitarbeiter unter meiner Anleitung Trial-and-Error. Dann sank die Ausschussquote von 20 Prozent auf unter 1 Prozent, was okay ist.
Der entscheidende Lösungsfaktor lag in neuen Spannbacken. Die hätte man auch gleich anschaffen können – für 2.500 Euro, statt erst für 360.000 Euro eine neue Maschine zu kaufen. Also 0,7 Prozent der Investitionssumme, wenn man die Lösung gemeinsam mit den Mitarbeitern gesucht hätte.
Von dem Theater mit dem Hersteller, den Telefonkonferenzen über Monate und der vergeudeten Arbeitszeit ganz zu schweigen. Das Beste aber war, dass die Arbeiter nun gelernt hatten, wie sie beim nächsten Mal selbst nach der Lösung für ein Qualitätsproblem suchen können. Das heißt es in der Praxis, Mitarbeiter zu befähigen.

Eine Frage der Haltung

Lean ist eine Haltung, kein Methodenkoffer

Methoden sind Ergebnisse einer Denkweise. Wer die Lean-Grundsätze mit Haut und Haaren lebt, der geht anders an Probleme heran und anders mit Menschen um als jemand, der in der Denkweise alter hierarchischer Unternehmensstrukturen gefangen ist.
In der Lean-Kultur kommt es nicht auf die Methoden und Tools an, sondern auf die innere Haltung. Deshalb wird Lean in Europa so oft missverstanden, und deshalb behaupten so viele, Lean funktioniere in ihrem Unternehmen nicht. Sie wollen die Lean-Methoden und die Tools anwenden, ohne ihre Haltung zu ändern. Das wird niemals gelingen.
In meiner Ausbildung bei Hitoshi Takeda habe ich gelernt, mich als Experten für Problemlösungen zu sehen, nicht als Experten für die Probleme selbst. Diese Haltung ist in europäischen Unternehmenskulturen noch nicht sehr verbreitet.
Gerade im produzierenden Mittelstand definieren sich viele Chefs immer noch als diejenigen, die am besten Bescheid wissen und daher berufen sind, bei Problemen selbst die Lösungen zu finden. Gleichzeitig wissen die Mitarbeiter oft, dass ihre Meinung nicht gefragt ist. Sie haben sich deshalb abgewöhnt, selbst über etwas nachzudenken, und sich angewöhnt, mit jeder Frage zum Chef zu rennen. Der Chef gibt sich dann oft genervt und beklagt sich über die Unselbstständigkeit seiner Mitarbeiter.
In Wirklichkeit haben sich in einem hierarchischen System nur oben und unten aufeinander eingespielt. Die Initiative zur Veränderung kann hier nur noch von oben kommen.

Probleme in der Werkshalle lösen

In einer Lean-Kultur wissen Führungskräfte nicht nur, dass sie für die meisten Probleme anfangs auch keine Lösung haben, sie sagen das ihren Mitarbeitern auch ganz offen.
Sie sagen zum Beispiel: »Leute, ich verstehe auch noch nicht, warum wir bei dem Getriebe diesen schwankenden Wirkungsgrad haben. Aber wir werden es gemeinsam herausfinden.«
Wer sich als Führungskraft auf einen Egotrip begibt, hat meist wenig bis kein Vertrauen in das Know-how und die Fähigkeiten seiner Mitarbeiter. Dabei machen es die meisten im Privatleben ja intuitiv richtig.
Mal angenommen, ein Manager sucht eine bestimmte Einstellung bei YouTube – wen würde er fragen? Die Hotline von YouTube? (Falls da überhaupt jemand erreichbar ist.) Oder seinen 14-jährigen Sohn, der täglich Stunden auf YouTube verbringt? Die Antwort liegt auf der Hand: Wer näher dran ist an der Praxis, der hat meistens auch schneller eine Lösung.

Wer ist hier wirklich der Experte?

Wenn ich zum Beispiel in ein Unternehmen komme, das Edelstahl bearbeitet und verschweißt, dann behaupte ich erst einmal, wenig Ahnung vom Schweißen zu haben, auch wenn das so nicht stimmt. Dieses Understatement wirkt entwaffnend und setzt gerade dadurch Lösungsenergie frei. Ich gehe in die Werkshalle und sehe mir gemeinsam mit den Menschen an der Maschine das Problem an. Das sind die Leute mit dem Wissen aus der täglichen Praxis. Ich will von ihnen als derjenige akzeptiert werden, der ihnen Lösungswege zeigen kann.
So habe ich das bei Hitoshi Takeda gelernt. Meine Ausbildung bei dem Begründer des »synchronen Produktionssystems« fand nicht in einem Seminarraum statt, sondern in einem Betonwerk. Keinem stillgelegten Werk, sondern einem, in dem produziert wurde, während wir unsere Lektionen lernten.
Takeda beschränkte die Theorie aufs Nötigste und schickte uns dann in die Werkshalle, wo echte Mitarbeiter uns erwarteten. Es gab da eine riesige Maschine, die Betonröhren für die Kanalisation herstellte. Eine unserer Aufgaben war, die Umrüstzeit der Maschine auf andere Rohrdurchmesser zu verkürzen.

Die (fast) unlösbaren Aufgaben des Hitoshi Takeda

Bisher dauerte es 150 Minuten, um die Maschine von 40 cm auf 30 cm Rohrdurchmesser umzurüsten. Die Zielvorgabe von Hitoshi Takeda lautete 9:59 Minuten oder weniger. Das ergibt sich aus der SMED-Methode (Single Minute Exchange of Die), die auf ein Umrüsten im einstelligen Minutenbereich zielt.
Wir hatten zwei Tage Zeit, um eine Lösung zu erarbeiten. Erst einmal gingen wir natürlich mit Anlauf in die Falle. Wie typische Ingenieure standen wir um die Maschine herum, machten Skizzen und diskutierten untereinander. Nach zweieinhalb Stunden lagen vier Skizzen zerknüllt im Mülleimer. Da trat Hitoshi Takeda wie ein weiser Zen-Meister ganz leise an mich heran und stellte mir nur eine einzige Frage: »Meinst du, dass ihr so in zwei Tagen das Problem lösen könnt?«
Da machte es Klick.
Wir redeten mit den Mitarbeitern und begannen, gemeinsam zu experimentieren. Nach zwei Tagen Trial-andError hatten wir die Rüstzeit von 150 auf 15 Minuten und 30 Sekunden reduziert. Takeda war zufrieden. Seine Zielvorgabe von 9:59 Minuten hatten wir zwar verfehlt, aber ohne dieses hohe Ziel hätten wir es niemals geschafft, die Umrüstzeit um fast 90 Prozent zu reduzieren.
Ob Lean Management in Unternehmen funktioniert, darüber müssen wir heute gar nicht mehr reden. Das ist oft genug erwiesen.
Reden müssen wir über die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit Unternehmen lean und agil werden. Ohne eine Haltungsänderung wird die Lean-Denkweise in den meisten Unternehmen im Ansatz stecken bleiben oder sogar scheitern. Wer sich mit dem Prinzip »Respect for People« nicht anfreunden kann und Schwierigkeiten hat, alle Mitarbeiter auf Augenhöhe und am Ort des Geschehens einzubeziehen, der kann sich die Beschäftigung mit den weiteren Lean-Prinzipien in diesem Buch eigentlich sparen.

Eigenverantwortung und Mitsprache der Mitarbeiter

Noch einmal: Es klingt leicht, aber es ist überhaupt nicht leicht.
Ich bin selbst in der Vergangenheit immer wieder gescheitert, weil ich als Ingenieur eben doch glaubte, allein den entscheidenden Geistesblitz zu haben.
Wer sich als Manager oder Projektleiter allerdings auf die neue Haltung einlässt, der wird schon bald feststellen, dass sie einem das Leben viel leichter macht.
Wer Mitarbeiter einbezieht, Verantwortung abgibt und sich nicht mehr mit jedem Problem allein herumschlägt, hat mehr Zeit fürs Wesentliche. Natürlich müssen auch die Mitarbeiter ihre Haltung ändern.
Alles hat immer zwei Seiten. Die Lean-Denkweise braucht mitdenkende, stets lernbereite, offen über Probleme und Lösungen kommunizierende Mitarbeiter, die sich verändern wollen. Sowohl die Praxis als auch verschiedene Studien zeigen, dass sich 90 Prozent der Mitarbeiter in Unternehmen mehr Eigenverantwortung und Mitsprache wünschen. Sie wollen ernst genommen und gefragt werden. Für so gut wie jeden ist es ein Glückserlebnis, wenn jahrelange Erfahrung in der Werkshalle endlich einmal abgefragt wird.

Erfolg vervielfacht sich, wenn man ihn teilt

Schließlich gibt es für alle – Chefs, Mitarbeiter, Zulieferer, Partner – eine Erfahrung, die nicht in Geld zu messen, aber genauso wertvoll ist wie alle Einsparungen und alle erfolgreich gelösten technischen Probleme: Es ist die Erfahrung, Erfolg miteinander teilen zu können.
Ohne meinen Sturz vom Fahrrad kurz vor der ersehnten Ankunft auf dem Nordkapplateau würde ich das vielleicht jetzt gar nicht so betonen. Aber heute weiß ich, wie wichtig das nicht nur bei einer Radtour, sondern auch im Arbeitsleben ist. Der Erfolg, den wir teilen, wird mehr. Der Erfolg, den unsere Mitarbeiter haben, kommt zu uns zurück. Das Wissen und die Ideen meiner Mitarbeiter vergrößern meinen eigenen Erfolg und sind am Ende auch gut für meine Karriere. Sich gemeinsam freuen zu können, ist als Motivationsschub kaum zu toppen.
Und dann gibt es quasi als kostenlose Zugabe noch die Leichtigkeit und die Freude, die den Alltag so viel angenehmer macht, Stress reduziert und uns alle gesünder und zufriedener werden lässt.
Sollte ich jemals noch einmal eine Radtour über 10.000 Kilometer planen, dann weiß ich jetzt: Ich sitze zwar alleine auf dem Sattel, aber an jeder Ecke können mir Menschen begegnen, die mir das Leben leichter machen. Sie bereichern mich mit ihren Ideen. Mit ihnen kann ich meine Erfolge teilen und mich gemeinsam mit ihnen darüber freuen.
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