Leitfaden IHK Digital Transformation Map: Hybride Frameworks und Projektmanagement

Dieses Playbook konzentriert sich auf die verschiedenen Entwicklungsmethoden, die einem Unternehmen zur Verfügung stehen, um seine Projekte, Prozesse und Entwicklungen bestmöglich zu organisieren. Dabei bieten hybride Frameworks einen erweiterten Ansatz zur Reorganisation von Projekten, Prozessen und Entwicklungen.
Bannerbild Artikel Hybride Frameworks

Ausgangslage: Hybride Frameworks und Entwicklungsmethoden

Neben klassischen Entwicklungsmethoden werden derzeit insbesondere agile Methoden wie Kanban, Design Thinking oder SCRUM in Unternehmen eingesetzt. Zu den klassischen Methoden gehört beispielsweise die Wasserfallmethode, benannt nach der kaskadenförmigen visuellen Struktur zur Darstellung von hintereinander ablaufenden bzw. aufeinander aufbauenden Prozessen, die meist bei komplexen, sicherheitskritischen Anwendungen, wie sie beispielsweise in der Luftfahrt- oder Automobilindustrie zu finden sind, zum Einsatz kommt.
Agile Methoden wie SCRUM, Design Thinking und Kanban werden dagegen vor allem in KMU, insbesondere in der IT-Branche, eingesetzt.
Häufig werden ‘klassisch’ und ‘agil’ gegenübergestellt und die grundsätzliche Frage diskutiert, ob man sich für den einen oder anderen Ansatz entscheiden soll. Hybride Frameworks stellen einen möglichen dritten Weg dar. Im Folgenden soll die Herleitung des Begriffs geklärt werden, um seine Bedeutung und Verwendung verständlicher zu machen.

Zum Begriff Hybrid

Der Begriff des Hybridwesens, zu Deutsch Mischwesen, stammt aus der Mythologie und bezeichnet fiktive Mischwesen, die sich aus zwei oder mehreren Lebewesen zusammensetzen - wie etwa die Sphinx aus Menschenkopf und Löwenkörper. Chimären wurden oft als bedrohlich empfunden - man denke nur an den Teufel mit Pferdefüßen oder an einen Unfug treibenden Satyr.
Mischwesen
Heute wird der Begriff unter anderem in der Automobilindustrie verwendet und bezeichnet die Kombination von Elektroantrieb und Verbrennungsmotor in einem Fahrzeug; auch hier wird etwas zusammengebracht, was scheinbar nicht zusammengehört bzw. kontraindikativ zu sein scheint.
Eine Irritation für Mischformen zeigte sich auch bei Arbeitsformen, die Flexibilität zwischen Büroarbeit und Heimarbeit erforderten. Für viele deutsche Unternehmen und Institutionen gab es vor der Grippepandemie keine großen Wahlmöglichkeiten; die vollständige Anwesenheit im Büro war Pflicht.
Die Pandemie erforderte in den meisten Branchen eine Umstellung auf Heimarbeit. Die Rückkehr zur Normalität bedeutete jedoch nicht die Rückkehr zur 100%igen Anwesenheitspflicht wie vor der Pandemie: Viele Unternehmen bieten ihren Mitarbeitenden heute die Möglichkeit der hybriden Arbeit an, da sich diese Arbeitsweise als praktikabel und produktiv erwiesen hat (und einige Unternehmen auch die Einsparung von Bürofläche begrüßt haben).

Zum Begriff Framework

Die Bedeutung des Begriffs Framework - zu Deutsch Rahmenstruktur - ist angelehnt an die Begriffsverwendung in der Softwareentwicklung: Es handelt sich um ein Programmiergerüst mit bestimmten softwareimmanenten Voreinstellungen, die den Nutzern die Arbeit mit dem Programm erleichtern und bessere/komplexere Ergebnisse erzielen lassen.
Ein Beispiel: Die in den 1960er Jahren entwickelte Programmiersprache BASIC (Abkürzung für “Beginner’s All-Purpose Symbolic Instruction Code”), die in den 1970er und 1980er Jahren auf den meisten Heimcomputern verwendet wurde, ist eine imperative Programmiersprache und folgt einem sehr starren System: Der Quellcode besteht aus einer Folge von Programmierzeilen, Anweisungen, was der Computer nacheinander tun soll.
Der Vorteil war das leichte Erlernen der Sprache - fast alle Besitzer:innen eines Heimcomputers hatten Grundkenntnisse dieser Sprache und konnten sie verwenden. Der Nachteil war jedoch die schwere Lesbarkeit der langen Quellcodes und die eingeschränkte Möglichkeit der nachträglichen Korrektur, da jede Programmzeile auf der vorhergehenden aufbaute und ein fertiger Code somit ‘wie in Zement gegossen’ war.
Um Flexibilität und vereinfachte Handhabung zu erreichen, wurden unter anderem objektorientierte Programmiersprachen erfunden, die eine Strukturierung mit einem speziellen Datentyp - einem Objekt - ermöglichen, an das Programmanweisungen adressiert werden können. Diese Objekte selbst sind bereits in bestimmte Klassen eingeteilt, die bestimmte Attribute haben; ein sehr einfaches Beispiel: Das Objekt “Pferd” hat vier Beine, während das Objekt “Vogel” zwei Beine und zwei Flügel hat.
Eingesetzte, vorprogrammierte Frameworks ermöglichen es Anwendern, bereits auf bestimmte Objektbibliotheken und Voreinstellungen zurückzugreifen und damit das Arbeiten mit dem Programm zu erleichtern und effizienter zu gestalten.
Der Begriff des Frameworks wird heute auch im Management von Organisationen verwendet, z.B. als Management Frameworks oder Leadership Frameworks. Dabei handelt es sich um bestimmte Denkschulen, die ein Regelwerk für eine bestimmte Art der Führung vorgeben.
Ein agiles Framework bietet bestimmte Methoden und Werkzeuge, um ein iterativ-inkrementelles Vorgehen für komplexe Probleme in einem dynamischen Umfeld erfolgreich umzusetzen. Im Gegensatz dazu bieten klassische Projektmanagement-Frameworks Methoden und Werkzeuge mit standardisierten Vorgehensmodellen für komplexe Probleme in einem relativ stabilen Umfeld.
Beide Ansätze haben ihre Vorteile und Grenzen - die Entscheidung, welcher Ansatz zum Einsatz kommt, hängt von der Umgebung ab, in der sie eingesetzt werden sollen.
Hybride Frameworks bezeichnen somit eine Rahmenstruktur, die die Umsetzung von hybridem Arbeiten ermöglicht und vereinfacht.

Eine Übersicht zu Entwicklungsmethoden

Hybride Frameworks dienen der Unterstützung und Verbesserung von Produktentstehungsprozessen. Die Vielzahl der Entwicklungsmethoden kann grob in fünf Kategorien eingeteilt werden:
1. Parallelentwicklung (engl. Simultaneous Engineering):
Ziel ist es, die Effizienz zu steigern und die Produktentstehungszeit zu verkürzen.  Die Anwendung dieser Methode ermöglicht es, gleichzeitig an verschiedenen Prozessschritten oder Produktaspekten zu arbeiten und die Koordination zwischen Entwicklung und Produktion zu verbessern.
2. Ablaufoptimierung:
Ziel ist es, die Abläufe im Produktentstehungsprozess zu optimieren und Fehler zu vermeiden (= Qualitätsmanagement). Ein Ansatz ist beispielsweise die Umsetzung des PDCA-Zyklus, der sich in vier Schritte gliedert:
  • Plan (Planen)
  • Do (Durchführen)
  • Check (Überprüfen)
  • Act (Verbessern).
3.Kostenoptimierung (engl. Target Costing):
Diese ganzheitliche Managementmethode wird in der Regel bei der Entwicklung, Differenzierung und Diversifizierung komplexer Produkte und Systeme eingesetzt.
Ziel ist es, die Herstellungskosten auf ein Minimum zu reduzieren, um auch den Kund:innen einen günstigeren Preis auf dem Markt anbieten zu können. Ebenso werden kundenspezifische Produkteigenschaften hervorgehoben und andere, weniger nachgefragte Funktionen weggelassen. 
IKEA ist ein Beispiel für kostengünstige Möbel, die den Kunden den Vorteil bieten, dass sie sofort gekauft und genutzt werden können - im Gegensatz zu anderen Möbelherstellern, die Lieferzeiten von mehreren Wochen oder Monaten haben.
4. Kaizen (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess – KVP)
Kaizen ist keine einzelne Methode, sondern eine Denkweise, deren Ziel es ist, durch kritisches Hinterfragen (auf allen Ebenen der Organisation) eine kontinuierliche Verbesserung zu erreichen.  Es gibt bestimmte Regeln oder Prinzipien, die helfen, diese Haltung in den Unternehmensalltag zu integrieren, wie z.B. die 5S-Regel:
  • Seiri: Entferne Unnötiges aus deinem Arbeitsbereich.
  • Seiton: Bringe Ordnung in das, was nach Seiri übrig geblieben ist.
  • Seiso: Halte deinen Arbeitsbereich sauber.
  • Seiketsu: Mache Sauberkeit und Ordnung zu deinem persönlichen Anliegen.
  • Shitsuke: Mache 5S zur Gewohnheit, indem du Standards festlegst.
5. Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA)
Die FMEA wird meist dort eingesetzt, wo es um systemkritische Produkte oder Prozesse geht, wie z.B. in der Automobil- oder Luftfahrtindustrie, deren Produkte insbesondere die Sicherheit von Menschenleben gewährleisten müssen. Ziel ist es, im Produktentwicklungsprozess aktiv nach allen (!) Fehlern jeglicher Art zu suchen und deren Auswirkungen im Einsatz zu bewerten.
Diese Entwicklungsmethoden sollen die Effizienz steigern, d.h. bestehende Produkte und Prozesse in Bezug auf Dauer, Funktion und Qualität optimieren. Klassisches Projektmanagement war daher lange Zeit geprägt durch den Fokus auf Verbesserung und Fehlervermeidung - und damit stark kontrollierend.
Im Folgenden Kapitel soll anhand des ‘magischen Dreiecks’ dargestellt werden, wann und warum klassisches Projektmanagement zum Einsatz kommt, wie sich im Gegensatz dazu agiles Projektmanagement verhält und wie sich beide sinnvoll zu einem hybriden Ansatz verbinden lassen.

Einsatzmöglichkeiten: Wann Hybride Frameworks nutzen

Das magische Dreieck

Das magische Dreieck ist als Symbol für die zentralen Faktoren des Projektmanagements bekannt. Damit lässt sich auch der paradigmatische Unterschied zwischen dem klassischen und dem agilen Ansatz veranschaulichen.
Im klassischen Projektmanagement sind die Anforderungen als Randbedingung vorgegeben, d.h. wie ein Produkt am Ende aussehen und welche Funktionen es haben soll. Dies kann z.B. in einem Pflichten- oder Lastenheft festgehalten werden. Requirement Engineering beschreibt das systematische Vorgehen zur Definition und Verwaltung dieses Anforderungskatalogs und kann mehrere Monate (bis zu einem Jahr) in Anspruch nehmen.
Auf Basis der definierten Anforderungen werden in einem zweiten Schritt Kosten- und Terminschätzungen vorgenommen. Die Praxis zeigt, dass die Kosten in der Regel steigen, wenn die angestrebten Termine eingehalten werden sollen - zum Beispiel durch den Einsatz von mehr Personal. Klassisches Projektmanagement lässt sich somit als plangetrieben beschreiben.
In agilen Projekten wird diese Vorgehensweise auf den Kopf gestellt: Kosten (= verfügbare Arbeitskraft) und Termine sind hier die vorgegebenen Randbedingungen, während die Eigenschaften des Produkts nur grob skizziert werden. Hier können agile Methoden wie OKR eingesetzt werden, bei denen ein OKR-Team gebildet wird, für das ein klarer Zeitrahmen und Besprechungsstrukturen vorgegeben werden (ein OKR-Zyklus dauert 3-4 Monate).
Am Anfang eines Zyklus steht die Planung, in der das Team erarbeitet, was es (ehrgeizig) erreichen will - ohne Details festzulegen oder zu kennen (z.B. wo welcher Knopf an einem Produkt angebracht wird o.ä.). Aus diesem Grund wird agiles Management als visionär beschrieben.
Definition eines agilen Projekts nach Dr. Patrick Fritz, Spezialist für Führungskräfteaustausch: „Ein agiles Projekt ist für mich ein einmaliges Vorhaben, bei dem sich mindestens 30% der definierten Anforderungen pro Monat ändern. Deshalb lohnt es sich, das Projekt in kleine Einheiten aufzuteilen und immer wieder neu zu planen.“

Agil vs. Klassisch: unterschiedliche Ansätze, die zusammenpassen

Ausgehend von den oben dargestellten unterschiedlichen Vorgehensweisen von klassischem und agilem Projektmanagement könnte man zu dem Schluss kommen, dass sich die Ansätze widersprechen und nicht miteinander vereinbar sind.
Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass beide Vorgehensweisen ähnliche Prozessmerkmale aufweisen: In beiden Fällen wird ein Team zusammengestellt; der Unterschied: Im klassischen Management wird die Zusammensetzung nach der Ressourcenverfügbarkeit bestimmt, im agilen Management entscheidet eher eine soziometrische Aufstellung - d.h. es steht die Frage im Vordergrund, wie die Menschen in den jeweiligen Konstellationen am besten zusammenpassen und sich ergänzen.
In beiden Fällen gibt es Anforderungen; der Unterschied: Im klassischen Management wird ein Projektstrukturplan mit Arbeitspaketen vorgegeben, während im agilen Management ein Product Backlog mit User Stories (eine in Alltagssprache verfasste Kund:innen-Anforderung) gepflegt wird.
In beiden Fällen wird der Aufwand kalkuliert; der Unterschied: Im klassischen Management wird dieser nach Erfahrung geschätzt (meist durch Teilprojektleiter:innen), während im agilen Management durch den Einsatz entsprechender Tools bereits eine Team- und Terminplanung festgelegt wird und z.B. durch einen “Planning Poker” kurz vor einer Sprintplanung eine konsensorientierte Aufwandsschätzung vorgenommen werden kann. Der Vorteil: Je länger das Team zusammenarbeitet und Sprints durchläuft, desto genauer werden diese Schätzungen.
Was in klassischen Projekten das Risikomanagement ist, ist in agilen Projekten die Pufferplanung.
In beiden Fällen gibt es das oben beschriebene magische Dreieck aus 1) Kosten, 2) Anforderungen/Eigenschaften und 3) Terminen. Der Unterschied: Im klassischen Projektmanagement ist dieses Dreieck plangetrieben, im agilen Projektmanagement ist es visionsgetrieben.
In beiden Fällen gibt es Meeting-Strukturen; der Unterschied: im klassischen Projektmanagement gibt es Status-Meetings, im agilen Projektmanagement gibt es Speed-Dating oder Daily-Meetings (d.h. Meetings in kürzeren Abständen, in denen schnelle Abgleiche und Kurskorrekturen möglich sind).
In beiden Fällen ist auch ein Ende definiert; der Unterschied: im klassischen Projektmanagement gibt es einen Projektabschluss (fertiges Produkt mit Abgleich zum Anforderungskatalog), im agilen Projektmanagement gibt es eine Retrospektive, in der der Prozess selbst unter die Lupe genommen wird und Verbesserungen in der Zusammenarbeit und Prozessgestaltung herausgearbeitet werden (das Visions-Produkt selbst muss nicht ‘vollständig’ fertig sein, sondern kann in Form eines Minimal Viable Products oder einer Beta-Version vorliegen).
Der folgende Überblick zeigt: Ja, klassisches und agiles Projektmanagement sind zwei Systeme, aber zwei Systeme, die in Kongruenz, in Übereinstimmung miteinander stehen. Die folgende Gegenüberstellung soll helfen, die Vor- und Nachteile des jeweiligen Ansatzes zu verstehen:
Klassisch
Agil
Methoden (Auswahl)
Wasserfallmethode, V-Modell, PRINCE2, Simultaneous Engineering, Six Sigma
Scrum, Design Thinking, Kanban, Lean Project Management, Lean Startup
Vorteile
• altbewährt und weit verbreitet
• funktionieren insbesondere bei klar definierten Projekten und eher linearen Ansätzen
• können bei komplexen Projekten an ihre Grenzen kommen
• nahezu unschlagbar bei komplizierten Projekten

• immer dann von Vorteil, wenn Anforderungen sich häufig ändern, bei kurzen Planungshorizonten oder hohem Forschungsanteil (trial & error)
• hohe Eigenverantwortung der Beteiligten
• agile Methoden kommen häufig aus der Software-Entwicklung
• inkrementelle Herangehensweise, flexibel gegenüber Änderungen, eher visionsgetrieben statt eindeutig definierbarer Zielsetzung
Nachteile
• ungeeignet, wenn der Ausgang des jeweiligen Projekts offen ist
• Schwächen bei der Entwicklung innovativer Produkte oder Dienstleistungen
• funktioniert nur bei interdisziplinären Teams
• funktioniert nur mit kurzen Feedbackschleifen
• Interaktion mit Stakeholdern wichtig, da ansonsten das Projekt ins Stocken gerät
Die Umsetzung eines hybriden Ansatzes in der eigenen Organisation kann dazu führen, dass sich die Vorteile beider Ansätze gegenseitig verstärken und die Schwächen ausgeglichen werden. Nachfolgend werden die ersten Schritte einer Einführung beschrieben.

Erste Schritte: Einführen eines Hybriden Frameworks

Wie lassen sich beide Ansätze des Projektmanagements sinnvoll kombinieren? Hier werden zwei Varianten vorgestellt, wie ein hybrider Rahmen geschaffen werden kann.

Variante 1 – hybrid innerhalb einer Organisation

Ein Ansatz ist die Trennung in die Teilbereiche “intern” und “extern”.
Nach außen vertritt ein Unternehmen ein klassisches Projektmanagement, indem es seinen Stakeholdern einen Projektplan zur Verfügung stellt und in größeren, aber regelmäßigen Abständen Updates zum Projektstand gibt. Ebenso können hier Berichte zur Dokumentation erstellt und Lenkungsausschüsse organisiert werden.
Dies kann durch ein internes agiles Projektmanagement ergänzt werden. So kann die interne Meetingkultur in kürzeren Abständen genutzt werden, um sich schnell und flexibel abzustimmen - z.B. in Form von Dailies und Weeklies - und es können Sprints angesetzt werden, um bestimmte Leistungen mit dem gesamten Team in einem Rutsch zu erledigen.

Variante 2 – hybrid innerhalb eines Projekts

Ein anderer Ansatz besteht darin, ein Projekt sowohl klassisch als auch agil zu managen. Beispielsweise indem ein klassischer Projektstrukturplan mit Arbeitspaketen erstellt wird, aber für die Aufwandsschätzung das agile Tool „Magic Estmation“ verwendet wird.
Dabei handelt es sich um eine Teamaktivität ähnlich dem Planning Poker, mit der in kurzer Zeit viele Arbeitspakete hinsichtlich Komplexität und Aufwand geschätzt werden können. Dabei gibt das Management einen Plan vor, ermöglicht aber dem Team, sein Know-how über Aufwand und Fallstricke einzubringen.
Auch die Meetingkultur kann hybride werden: Generell können klassische Statusmeetings alle paar Wochen vereinbart werden, in der heißen Phase eines Projekts aber Dailies abgehalten werden, um die Umsetzungsgeschwindigkeit zu erhöhen und kleine Kurskorrekturen durch kurze Kommunikationswege schnell vornehmen zu können.
Der Projektabschluss kann eine Alternative zu einem ausführlichen Abschlussbericht darstellen, indem ein Review - die Bewertung des Produktergebnisses - mit einem Retro - der Bewertung der Zusammenarbeit während des Entwicklungsprozesses - kombiniert wird. 

Do’s and Don’ts: Unterstützung durch den Prozess des Tetralemmas

Die Frage, ob klassische oder agile Methoden besser sind, wird teilweise als Kampf der Denkschulen geführt. Der Prozess des Tretralemmas kann hier eine Entschärfung und auch eine Öffnung für hybride Methoden ermöglichen. Es hilft auch, sich aus dem eigenen Entscheidungsdilemma zu befreien, was für die eigene Organisation am sinnvollsten ist - und was man tun und lassen sollte, um einen Wandel zu realisieren.
Das Tetralemma ist eines der großen Denkmodelle aus dem systemischen Coaching von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd.  Es ähnelt dem Harvard-Konzept, das Merkmale des sachorientierten Verhandelns beschreibt:  Im Vordergrund steht der größtmögliche Nutzen für alle Verhandlungsparteien, wobei neben der Verständigung auf der Sachebene auch eine gute persönliche Beziehung gepflegt werden soll. Dies geht weit über Kompromisslösungen hinaus und gestaltet vielmehr durch Verhandlung einen optimalen ‘dritten Weg’.
Das Tretalemma als Prozess folgt einem ähnlichen Prinzip, indem der Handlungs- und Entscheidungsspielraum eines scheinbaren Dilemmas erweitert wird. Stellt man sich als Führungskraft zunächst die Frage: “Wofür entscheide ich mich - für das eine (klassisches Projektmanagement) oder für das andere (agiles Projektmanagement)?”, kann die Entscheidungslandschaft um die Positionen “beides” oder “weder noch” erweitert werden.
Dabei enthält die Position “Beide” nach Sparrer und Varga von Kibéd neben der Kategorie “Kompromiss” aus beiden noch zwanzig weitere Möglichkeiten, wie die scheinbar gegensätzlichen Sachverhalte miteinander verknüpft werden können (übersummative Verknüpfung, paradoxe Verknüpfung, Iteration usw.).
Ebenso eröffnet die Position des “Weder noch” einen weiteren Horizont an Möglichkeiten, da sie eine völlig neue Kontextualisierung, ein “externes Refraiming” aufruft, in dem die Fragestellung sowie die Wahlmöglichkeiten zunächst ihre Gültigkeit verlieren.
Grundsätzlich führt die Auseinandersetzung mit dem Tetralemma dazu, dass man weder das eine Framework des klassischen Projektmanagements noch das andere Framework des agilen Projektmanagements über das andere stellen sollte.
Ebenso bedeutet es, dass auch der hybride Ansatz nicht als besser zu bewerten ist, sondern dass man sich als Führungskraft fragen muss, welche Vorteile das eine, das andere, beide oder das ‘weder noch’ für die eigene Organisation hat. Wo treten regelmäßig Probleme oder ‘Flaschenhalssituationen’ auf und welcher der Ansätze bietet dafür die geeigneten Instrumente?

Gute Grundsätze für hybride Methoden

Don’t: Keinen Glaubenskrieg anzetteln
Grundsätzlich ist es nicht zielführend, eine Methode über eine andere zu stellen. Betrachtet man den Blumenstrauß an Möglichkeiten, den der Prozess des Tretralemmas eröffnet, wird verständlich, dass die eine, die andere, beide oder keine der drei Ansätze für Organisationen richtig sein können. Die Entscheidung muss für den eigenen Fall geklärt werden.
Do’s: Methoden projektspezifisch auswählen
Prüfen Sie die Anforderungen und Rahmenbedingungen des Projekts genau und treffen Sie dann Entscheidungen. Dies setzt eine gewisse Methodenkompetenz voraus, um diese Entscheidungen treffen und die Werkzeuge entsprechend anwenden zu können.

Ebenso ist eine fast spielerische Herangehensweise, eine gewisse Lockerheit von Vorteil, da diese Veränderung auch mit einem ‘Ruckeln’ im System einhergeht und Fehler oder auch Missverständnisse auftreten können. Diese dienen dazu, zu lernen und den Umgang mit den Methoden zu optimieren.
Passenden Kommunikationsstil wählen
Bei klassischen Methoden ist eine Top-Down-Kommunikation sinnvoll, da die Vorgehensweise dies erfordert (z.B. durch Vorgabe eines Projektstrukturplans und Zuweisung von Arbeitspaketen). Agile Methoden basieren auf einer Bottom-Up-Kommunikation, die u.a. durch Meetingstrukturen gefördert und gefordert wird.
Daher ist es bei der Anwendung hybrider Methoden für alle Beteiligten relevant zu wissen, welcher Ansatz in welchem Bereich gerade angewendet wird, damit auch der Wechsel zwischen Top-Down- und Bottom-Up-Kommunikation funktioniert und wenig Irritationen entstehen.

Hybride Führungsmodelle: “System der Systeme” im Leadership

Die obigen Ausführungen zu Entwicklungsmethoden lassen sich auch auf Führungsmodelle übertragen und können zu neuen hybriden Organisationsstrukturen führen.
Die klassische Unternehmensstruktur ist durch eine Top-Down-Hierarchie gekennzeichnet. Dahinter steht die Vorstellung, dass Erfolg bedeutet, auf der Führungsebene die Kontrolle zu behalten; auf der untersten Ebene gibt es daher eine Standardisierung von Prozessen, klare Wege der Verantwortlichkeit und die Erstellung und Verteilung von Daten und Berichten als Reportingfunktion.
Auf dieser Basis kann die Führungsebene Entscheidungen treffen und Macht verteilen, d.h. Wissen und Verantwortung nach unten weitergeben (oder auch nicht).
D ie Grundlage einer agilen Organisation ist, dass das Team, um erfolgreich zu sein, von der Führung wissen muss, was es braucht, um optimal zu funktionieren.
Auf Basis des Feedbacks des Teams kann die Führung dann Feedback und Richtlinien geben, um entsprechende Hindernisse aus dem Weg zu räumen, zu unterstützen und den Dialog zwischen den Mitarbeitenden zu fördern. Von oben" kommt in einer solchen Organisation eher die übergeordnete Vision, die Förderung des verteilten Wissens und Angebote zur Förderung der Selbstorganisation (Workshops, Schulungen).
Auch hier gilt: Beide Organisationsstrukturen haben ihre Berechtigung, ihre Vor- und Nachteile.
Die Kür besteht auch hier darin, als Führungskraft über einen hybriden Ansatz nachzudenken: Wo braucht es Standardisierung und klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten und wo gilt es, die Selbstorganisation in der Organisation zu fördern und den Mitarbeitenden Freiräume für Prozess- und Produktentwicklung zu geben?
Insbesondere für die Förderung von Innovation und den Umgang mit Komplexität (VUCA-Welt) und digitaler Transformation sind hybride Ansätze sinnvoll, die das Querdenken fördern und fordern, weil sie Bestehendes neu und anders kombinieren.

Aktionsplan: Checkliste zur Einführung von Hybriden Frameworks

  • Welche Entwicklungsmethoden werden in unserem Unternehmen eingesetzt?
  • Folgt unser Projektmanagement einem klassischen oder agilen Ansatz?
    • Wo liegen hierfür die Vorteile?
    • Was sind die Nachteile?
    • Welche Stärken könnte die Integration des entgegengesetzten Ansatzes bieten?
  • In welchem Bereich/Abschnitt im Entwicklungsprozess entstehen die meisten Probleme?
    • Ist dies der zu Grunde liegenden Methode (klassisch/agil) zuzuschreiben?
    • Hat eine andere Methode Lösungsansätze für dieses Problem?
    • Wie könnte ein hybrider Ansatz in diesem Bereich aussehen?
  • In welchem Bereich unserer Organisation werden bereits hybride Ansätze verwendet? (siehe Kap. 5, Variante 1 und 2)
    • Was sind die Vorteile?
    • Was sind die Nachteile?
    • In welchem Bereich bräuchte es einen hybriden Ansatz?
  • Wo kann der Prozess des Tretralemmas helfen, um ein Entscheidungsdilemma aufzulösen? Was ist sind die Argumente für
    • das Eine,
    • das Andere,
    • Beides,
    • Weder noch?

Veranstaltungshinweise, weitere Informationen

Monatlich werden nach und nach und in Wiederholungen die einzelnen Methoden der IHK Digital Transformation Map in kostenfreien Online-Impulsen vorgestellt.
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Unter Online Impulse IHK Digtial Transformation Map finden Sie alle Termine und die Anmeldemöglichkeiten. 
Viele weitere Online-Impulse mit dem Augenmerk auf digitale Themen finden sich unter de Veranstaltungsübersicht impulsnetzwerk.ihk.de.
Hinweis zum generischen Maskulinum unter Einsatzfelder der IHK Digital Transformation Map.

Quellenangaben

  • Sinek, Simon: Frag immer erst: warum: Wie Top-Firmen und Führungskräfte zum Erfolg inspirieren, Redline, München 2014.
  • Ehrlenspiel, Klaus; Meerkamm, Harald: Integrierte Produktentwicklung – Denkabläufe, Methodeneinsatz, Zusammenarbeit. Hanser, München 2017
  • Schaffler, R.: Ressourcen, PDCA und Führung. In: Qualitas 21, 15–17 (2022). https://doi.org/10.1007/s43831-022-0101-z
  • Kremin-Buch, Beate: Strategisches Kostenmanagement. Grundlagen und moderne Instrumente. Gabler, Wiesbaden 2007.
  • Marks, Timo: Kontinuierlicher Verbesserungsprozess (KVP) / Kaizen. In: 5S als Basis des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses. ifaa-Edition. Springer Vieweg, Berlin, Heidelberg 2016. https://doi.org/10.1007/978-3-662-48552-1_7
  • Dieter H. Müller, Dieter H., Tietjen, Thorsten: FMEA-Praxis. Das Komplettpaket für Training und Anwendung. Hanser, München 2011.
  • Sparrer, Insa; Varga von Kibéd, Matthias: Ganz im Gegenteil, Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. 6. Auflage. Carl Auer, Heidelberg 2009.
  • Fisher, Roger et al. (Hrsg.): Das Harvard-Konzept. Der Klassiker der Verhandlungstechnik. 24. Auflage , Campus-Verlag, Frankfurt am Main / New York, 2013. 
(Autoren: Gordon Geisler, Co-Autor und Herausgeber: Emmanuel Beule, Stand 5.4.2024)